Laulupidu – Wenn eine ganze Nation nach Freiheit singt

Als im Juni diesen Jahres zum 26. Mal tausende Menschen auf dem Lauluväljak – dem Sängerfestplatz in Estlands Hauptstadt Tallinn – zusammenkamen und die geballten Stimmen von 33.000 Sängern die Luft erfüllten, erinnerte dies nicht nur wieder an die lange, von Unterdrückung geplagte Geschichte dieses kleinen Volkes, sondern versetzte die Zuschauer in einen Zustand der Zeitlosigkeit. Genau hier hatte vor 134 Jahren das dritte offizielle Liederfest der Esten stattgefunden – nicht ohne skeptisch von russischen Behörden beobachtet zu werden.

Seit das estnische Sänger- und Tanzfest im Jahr 1869 zum ersten Mal in Tartu initiiert worden war, hatte es stets als Ausdruck estnischen Nationalbewusstseins gedient – wohlgemerkt in einem Land, das unter jahrelanger Besetzung durch Schweden, Deutsche und Russen stand. So war Gesang schon immer ein wichtiger Teil der estnischen Kultur, avancierte aber Mitte bis Ende des 20. Jahrhunderts zu einem Ausdruck nationaler Gemeinschaft.

Während die Kultur der knapp eine Million Einwohner umfassenden Bevölkerung des baltischen Staates nie unterdrückter war als unter sowietischer Herrschaft, war gerde diese Zeit, jene in der sie am stärksten bewahrt wurde. Zwar fanden alle fünf Jähre die traditionellen Gesangs-Festivals in Tallinn statt, jedoch wurde jeglicher Ausdruck nationalen Bewusstseins rabiat unterbunden. Anstatt estnisch-sprachiger Sängerschaften, traten Chöre der Roten Armee auf der großen Bühne in der Stadt an der Ostseeküste auf. Ein kleiner Umstand war es jedoch, der die verbotene Nationalhymne nicht ganz aus den Gedächtnissen der Esten verschwinden ließ: Der finnische Radiosender YLE, der im Norden des Landes zu empfangen war, spielte jeden Abend zu Programmschluss die finnische Nationalhymne – mit derselben Melodie der estnischen.

Alle fünf Jahre wenn die Chöre auf dem Lauluväljak zusammen kommen, gedenkt man der Zeit vor gerade mal 25 Jahren, in der sich die Menschen im Baltikum an die Hände nahmen und mit dem Herz auf der Zunge auf den Plätzen ihrer Länder für ihre Unabhängigkeit sangen. 1988 – drei Jahre vor der Wiederherstellung ihrer Unabhängigkeit – versammelten sich 300.000 Esten auf dem Lauluväljak und sangen ihre verbotene Hymne – die im Westen fast vergessene singende Revolution.

Bei seinem erst kürzlichen Besuch in Tallinn rief US-Präsident Barack Obama diese Zeit zurück in die Gedächtnisse der westlichen Staaten, und fasste genau das in Worte, was die Luft auf dem Liederplatz immer wieder mit Emotionen auflädt und zum Knistern bringt.

You are fulfilling the dream that your parents and grandparents struggled for but could only imagine, and that is living your lifes in free and independent and democratic baltic nations. That dream of freedom was obtained through centuries of occupation and oppression. […] And here in Estonia, it was a dream that found its most eloquent expression in your voices – on a grassy field not far from here – when Estonians found the courage to stand up against an empire and sing ‚land of my fathers, land that I love‘. […] And then exactly 25 years ago, people across the Baltics came together in one of the greatest displays of freedom – a non-violent resistance – that the world has ever seen. On that August evening perhaps 2 million people stepped out of their homes and joined hands – a human chain of freedom.

Die junge Generation der baltischen Staaten steht bereit ihre Chance zu nutzen, in Freiheit und Demokratie ihre Ideen und Träume in die Tat umzusetzen. Die Menschen in Estland und des restlichen Baltikums sind erfüllt von ihrer Tradition, aber voller Tatendrang zu kreieren, zu experimentieren, zu reisen, zu sehen, zu hören, zu lernen – und das findet nicht nur in ihren Stimmen beim Liederfest Ausdruck.

– – – Das nächste Liederfest findet am 29. und 30. Juni 2019 in Tallinn statt! – – –

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